Das ansehnliche Werk der Erzählerin Carme Riera (Palma 1948) weist
die Besonderheit auf, dass es bei Leserschaft und Kritik gleichermaßen
Erfolg und wohlwollende Aufnahme genießt. Seit jener zeitlich bereits
weit zurückliegenden Sammlung von Erzählungen Te deix, amor, la mar
com a penyora (1975), mit der Carme Riera den literarischen Weg einschlug
und die bereits die zwanzigste Auflage überschritten hat, hat die
Schriftstellerin ein beachtliches Gesamtwerk geschaffen, zu dem solch
bekannte Titel zählen wie Jo pos per testimoni les gavines (1977),
Epitelis tendríssims (1981) oder ihr erster Roman Una primavera per
a Domenico Guarini (ausgezeichnet mit dem Preis Prudenci Bertrana
1981), ferner Qüestió d'amor propi (1987), Joc de miralls (1989, Preis
Ramon Llull), Contra l'amor en companyia i altres relats (1991) oder
der mehrfach preisgekrönte Roman Dins el darrer blau (1994; Preise
Josep Pla, Nacional de Literatura, Creixells, Lletra d'Or und Elio
Vittorini de Siracusa 2000), Temps d'una espera (1998), das Tagebuch
über ihre letzte Schwangerschaft, und schließlich ihr jüngster Roman
Cap al cel obert (2000), wiederum ein großer Erfolg bei Leserschaft
und Kritik.
Als Professorin für Spanische Philologie an der Universitat Autònoma
von Barcelona und ständige Mitarbeiterin von Zeitungen wie La Vanguardia
oder El País ist Carme Riera Kennerin der spanischsprachigen Literatur
sowohl in Spanien selbst als auch in Lateinamerika. Dies ermöglicht
es ihr, mit den unterschiedlichsten literarischen Formen zu experimentieren
und dabei Geschichten zu erfinden, die direkt mit den angewandten
Techniken in Verbindung stehen. So hat sich ihr Werk - wenn auch ihre
ersten Erzählungen von durchaus nicht zu verachtendem dokumentarischem
und soziologischem Wert sind - nach und nach zu einem eigenen literarischen
Mikrokosmos entwickelt. In diesem Sinne wies bereits ihr erster Roman,
der zu Beginn der 80er Jahre erschien, ausdrücklich ein die Gesamtheit
ihres späteren Werkes sehr prägendes Charakteristikum auf: eine Intertextualität
typisch spanischer Ausprägung. Diese Komponente wird man als wesentliches
Bezugselement in weiten Teilen ihres Werkes wiederfinden.
Dins el darrer blau
Mit dem Roman Dins el darrer blau (1994), (Ins fernste Blau, edition
Lübbe, 2000) der mit dem renommierten "Premio Nacional de la Literatura"
des spanischen Kultusministeriums ausgezeichnet wurde, schlägt Carme
Riera einen neuen literarischen Weg ein. Sie stellt damit gleichzeitig
das erste Werk eines (bisher) kurzen Zyklus vor, der dem Schicksal
der zum Christentum konvertierten Juden auf Mallorca (der sogenannten
"xuetes") gewidmet ist. Die Autorin thematisiert damit einen der dunkelsten
und grausamsten Abschnitte der Geschichte ihrer Heimat Mallorca: die
Verfolgung der zu Christen konvertierten Juden durch die Inquisition
des 17.Jahrhunderts. Denn dieser anspruchsvolle Roman byzantinischen
Einflusses geht auf reale Ereignisse zurück, die mit den letzten autos
da fe auf Mallorca (1688-1691) in Zusammenhang stehen, und stellt
sich entschieden auf die Seite der Opfer der Unversöhnlichkeit und
Habsucht der weltlichen und geistlichen Autorität jener Zeit.
Auf jenem Mallorca, wo die Unterdrückung wächst und sich das Auswanderungsverbot
immer mehr verschärft, bleibt den konvertierten Juden nur die Möglichkeit,
ihr Land heimlich zu verlassen. Die blaue Farbe des Meeres wird so
zum Symbol der ersehnten Freiheit. Das Ziel ist Livorno, doch die
Flucht, von den Juden als ein Ausbruch empfunden, scheitert, und die
Geächteten werden festgenommen. Damit beginnt eine Zeit der Angst,
Gewalt und Folter, doch auch der Hoffnung und der Bestätigung des
eigenen jüdischen Glaubens.
Carme Riera hat ein dialektisches Spiel zwischen melodramatischen
und sentimentalen Mitteln einerseits und Ironie und Satire andererseits
ausgearbeitet, mit dem sie die Heuchelei des herrschenden politischen
und religiösen Diskurses deutlich macht.
Gestützt auf historisch dokumentierte Tatsachen hat die Autorin somit
dank ihrer poetischen und ausgefeiten Sprache ein ¾eigentlich brutales¾
geschichtliches Thema auf das Niveau eines historischen und literarischen
Diskurses gehoben. Dins el darrer blau ist weit mehr als ein historischer
Roman, es ist ein Plädoyer gegen Rassismus und Intoleranz, aber auch
eine Erzählung, die die Vergangenheit Mallorcas beleuchtet und die
Bewohner der Insel zum Nachdenken und zum Übernehmen historischer
Verantwortung auffordern will.
Cap al cel obert
Cap al cel obert (2000) ist Rieras jüngste katalanischsprachige Veröffentlichung
und ist in deutscher Übersetzung lediglich zwei Jahre später unter
dem Titel In den offenen Himmel (edition Lübbe 2002) erschienen. Das
Spiel mit der Intertextualität rückt diesen Roman in die Nähe von
Dins el darrer Blau, jedoch mit grundlegenden gattungsspezifischen
Unterschieden. Diesmal befinden wir uns im Jahre 1850 im Kuba der
Kolonialzeit, wo die Familie Fortalesa, die von zum Christentum konvertierten
mallorkinischen Juden abstammt, ihr Glück gemacht hat. Auf diese stoßen
nun zwei Mitglieder derselben Familie, jedoch von der auf Mallorca
verbliebenen Linie, den "echten" Fortesas: Zwei Cousinen aus Mallorca,
Maria und Isabel, reisen anlässlich einer zwischen beiden Familienzweigen
abgesprochenen Heirat per Schiff von Europa nach Amerika. Doch die
lange und gefahrvolle Reise soll die Zukunft Maria Fortesas bestimmen,
die allein in Kuba ankommt und sich in einer Gesellschaft von Herren
und Sklaven, von Grundbesitzern und Tagelöhnern, Korruption und Unterwerfung
wiederfindet.
Mit viel Einfühlungsvermögen nähert sich Carme Riera einer Gesellschaft,
die als Folge der Emigration so geworden ist, wie sie ist. Einer durch
die mehrheitlich katalanische und balearische Emigration geprägten
Gesellschaft, die sich eisern ans System der Sklavenhalterei klammert
und zwischen der Treue zum spanischen Mutterland, den nordamerikanischen
Annexionsbestrebungen und dem eigenen Unabhängigkeitswillen hin und
her schwankt. In diesem kolonialen Kuba des vorletzten Jahrhunderts
ziehen eine Reihe von Figuren an uns vorbei, die uns in eine Welt
voller Intrigen und Widersprüche, Neid und Verrat mitnehmen. Und wieder
wird ihre jüdische Abstammung das Leben von Mallorkinern bestimmen,
die von der Last des Erbes ihrer Vergangenheit gezeichnet sind.
Die Verlegung der Handlung in die zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts
erlaubt der Autorin, die Struktur des Feuilletons zu verwenden, jene
in der Romantik in Mode gekommene Gattung, in der die Intrige dadurch
vorangetrieben wird, dass sie sich von Kapitel zu Kapitel bzw. Feuilleton
steigert. Wir haben es also mit einer Begebenheit aus dem 19.Jahrhundert
zu tun, die mit Hilfe der Techniken eben jener Epoche erzählt wird:
32 Folgen mit starker Konzentration der Intrige gegen Ende, um die
Neugier des Lesers zu wecken und ihn zu "zwingen", mit der Lektüre
fortzufahren. Die Autorin beweist nicht nur eine glückliche Hand bei
dieser neuen technischen Herausforderung, sondern es gelingt ihr auch
"romantische" Figuren zu entwerfen, ohne gezuckerten Klischees zu
verfallen. Ganz im Gegenteil sind die Figuren Rieras aus Cap al cel
obert äußerst eigenständig, sie entsprechen den jeweiligen persönlichen
Verhaltensmustern, die sich aus der vorliegenden Handlungsentwicklung
ergeben. Unterschiedliche für Riera charakteristische Elemente springen
ins Auge, wie z.B. die entscheidende Rolle des Zufalls, das Spiel
der Spiegel/Spiegelungen, die Thematik der Doppelgängerin der Rollenübernahme
und die zentrale Stellung von Briefen in vielen ihrer Romane. Diese
für den Erzählstil Carme Rieras typischen Elemente werden auch hier
in den historischen Kontext ihrer Heimat eingebunden, was wiederum
unfangreiche Recherchen und genaue Dokumentierung des von ihr thematisierten
geschichtlichen Augenblicks und Zeitraumes voraussetzt.
Wir haben es also mit einem sehr gründlich ausgearbeiteten Roman zu
tun, der dem Geist und der Sensibilität einer vielseitigen Autorin
entspricht, die gern mit neuen Ausdrucksformen und literarischen Techniken
experimentiert. Jeder Beitrag Carme Rieras wird zu einer neuen Herausforderung,
zu einer neuen Degustation der besten zeitgenössischen Erzählkunst
Mallorcas; eben: Literatur für Feinschmecker.
Pilar Arnau i Segarra (Universität Münster)
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